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Dispatch oder: wie Kontext aus Schwächen Stärken macht

Dieses Review existiert auch in Videoform auf YouTube.

https://youtu.be/ibBk1zYwKVk

Das Element, welches Videospiele von anderen Medien primär unterscheidet, ist die Entscheidung. Drehe ich das Tetromino, bevor es nach unten plumpst? Soll Mario nach links oder rechts laufen? Interaktivität ist zugleich Stärke und Schwäche des Mediums. Insbesondere wenn es um die Erzählstruktur geht. Ein Buch, ein Film, eine Serie haben den narrativen Spannungsbogen vollständig unter Kontrolle. Der große Twist kommt auf Seite 273. In Minute 14 von Folge 53 küssen sich die beiden Charaktere endlich.Videospiele hingegen müssen den Freiraum, den sie ihren Spieler:innen gewähren, miteinbeziehen.

Und so können wir grob zwei Paradigmen unterscheiden, die unterschiedliche Vor- und Nachteile mit sich bringen. Auf der einen Seite gibt es Spiele, die von Tabletop-Rollenspielen inspiriert den größtmöglichen Freiraum bieten wollen. Sie liefern einen mechanischen Rahmen für den Drang, selbst eine Geschichte zu erzählen. Doch die daraus resultierende überwältigende Anzahl an Möglichkeiten ist kaum zu bändigen. Es muss Limits geben. Wenn ein Spiel nicht eine Version einer Geschichte darstellen können muss, sondern dutzende, hunderte, tausende, ist es ein fast unmöglicher Drahtseilakt, thematische Handlungsfäden und Stringenz zu bewahren. 

Auf der anderen Seite steht eine Art von entscheidungsbasiertem Narrativ, das es in der Form noch gar nicht so lange gibt. Serienreife Erzählungen, die einer klaren Handlung folgen, aber anhand von steten Entscheidungsmomenten leichte Variationen derer präsentieren, entstanden in den frühen 2010er Jahren. Vor allem die Entwicklungsstudios Telltale und Dontnod übernahmen hier eine Pionierfunktion und erlebten mit Spielen wie The Walking Dead und Life Is Strange große Erfolge. Doch der rasante Aufstieg des neuen Erzählgenres erlebte einen ebenso plötzlichen Abfall. Sobald es zu offen ersichtlich ist, dass ein Großteil der getroffenen Entscheidungen nur minimale Auswirkungen auf die Geschichte entwickeln, stellt sich sehr schnell die Frage, warum überhaupt eine Entscheidung getroffen wurde. Handelt es sich nur um ein Spiegelkabinett, das – einmal als solches enthüllt – die ursprüngliche Magie nie wieder einfangen kann?

Diese ungewöhnlich ausschweifende Kontextualisierung ist vonnöten, um den Erfolg von AdHoc-Studios neuester Umsetzung der zweiten dieser zwei Erzähl-Ideen nachvollziehen zu können. Denn Dispatch ist deswegen ein riesiger Triumph, weil es die Stärken des gewählten Paradigmas voll ausspielt und dabei elegant in der Lage ist, diverse Schwächen ebenfalls ins Positive zu wenden.

In Sachen Animation, Voice Acting und Charakterdesign ist Dispatch kaum von einer Netflix-Serie zu unterscheiden. Wenig verwunderlich, denn genau so eine sollte das Projekt auch ursprünglich mal werden. In einer Welt, die irgendwo in der Mitte zwischen den Avengers und The Office gefangen ist, muss der ehemalige Superheld Robert Robertson III, besser bekannt als Mecha Man, lernen, ohne seine überwältigende Mech Suit Gutes zu tun. Dafür nimmt er ein Jobangebot als “Dispatcher” an, ein Team von ehemaligen und hoffentlich reformierten Superschurk:innen anzuleiten, um sie nicht nur ihren Stärken und Schwächen entsprechend einzusetzen, sondern sie dabei auch zu inspirieren, menschlich und professionell zu wachsen. Das Salz an der Suppe, das dem Spiel den nötigen Kick gibt, ist die Ausgestaltung der Welt in einer Form, die ich nur als sexy Comedy zu beschreiben in der Lage bin.

Wenn sich ein Charakter ganz ungeniert in Anwesenheit der Kamera selbst befriedigt, finden das manche wahrscheinlich zu voyeuristisch oder tun Humor im Raum der Sexualität ohnehin als juvenil ab, doch ich persönlich erlebe die Darstellungen in Dispatch als äußerst erfrischend. Romantik und Sexualität spielen eine große Rolle in unserer Erfahrungswelt, finden aber in Videospielen sehr selten Repräsentationen, die sich authentisch anfühlen. Gefangen zwischen männlicher Wunscherfüllung und wenig überzeugenden Animationen stellt sich Sex eher selten tatsächlich sexy dar.

Als Serie ist Dispatch also klasse, aber wieso funktioniert es als Videospiel so gut?

Vermutlich gehen die Meinungen hier noch stärker auseinander als bei der Erzählweise. Neben dem gelegentlichen Auswählen von Dialogoptionen übernehmen wir Spieler:innen nämlich Roberts Arbeitsschichten als Dispatcher. Und zwar in Form eines Minispiels, bei dem wir einen Teil der Stadtkarte von Los Angeles betrachten, gelegentlich Sicherheitssystem hacken, aber vor allem die Mitglieder unseres Teams losschicken, um etwa alten Damen über die Straße zu helfen, kleine Überfälle zu vereiteln oder Bomben zu entschärfen, die ganze Blöcke in Gefahr bringen. Dabei gilt es selbstverständlich, jeweils die richtigen Held:innen für den Job auszuwählen.

Der Ablauf dieser Schichten hat keine weiteren Auswirkungen auf den Plot. Wir können die spätere Eskalation nicht verhindern, indem wir an den ersten beiden Tagen besonders viele Probleme sehr effizient lösen. Und das ist auch gut so. Denn Dispatch hat eine Geschichte zu erzählen und ein narratives Momentum, das mich schnell von einer Folge in die nächste sog. Die Aufgabe des Mini-Spiels ist es viel mehr, den enorm unterhaltsamen Charakteren Raum zu geben, sich auszutauschen. Zwischen erheiternden Hintergrundgeschichten, herzerwärmenden Beziehungen, die sich behutsam ausbilden und Sticheleien, die mich überraschend häufig zum Lachen bringen können, unterstützt die Dispatch-Schicht in erster Linie die Fülle der Erzählung. Das passiert aber auch auf der mechanischen Ebene, die es in der Form eben nur in einem Spiel geben kann und rechtfertigt, dass wir es hier nicht mit einer Serie zu tun haben. Wenn sich die beiden anfänglichen Außenseiter:innen gegenseitig finden und sowohl die Synergien ihrer Fähigkeiten als auch die Entwicklung ihrer Beziehung untereinander zeitgleich stattfindet, dann spielt Dispatch voller Selbstbewusstsein in einer Stelle des Spiels, die eigentlich eine Schwäche sein sollte, Stärke um Stärke aus. Eben weil es versteht, dass die Charaktere stets im Mittelpunkt stehen sollten.

Ich persönlich habe mich nie an dem Schall-und-Rauch-Problem des Genres gestoßen. Es war mir nicht egal, welchen Charakter ich gerettet habe und welchen ich habe sterben lassen, nur weil der oder die jeweils Überlebende nur wenig später die Gruppe verlassen würde. Mich bewegt, WARUM ich eine Entscheidung getroffen habe. Dass ich in Dispatch fast durchgängig eine überzeugende Antwort auf diese Frage gefunden habe, ist der Beleg eines besonderen Spiels. Staffel 2 kann nicht schnell genug kommen.

Review: Niklas Kuck

Cover: Martha Telschow und Moritz Bauer

Titelmusik: Paul Biegler, David Pfabe und Niklas Kuck – HENDIATRIS Game Club

Clair Obscur – Expedition 33: von weichen Teppichen und tanzbarem Parkett (Review)

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Clair Obscur ist im umgangssprachlichen Sinne ein Phänomen, einzigartig in seiner speziellen Rezeptur. Der Prolog ist ein perfekter Auftakt, der es vermag, innerhalb weniger Minuten emotionale Höhe- und Tiefpunkte zu kreieren, und diese geschickt mit der Mythologie des Spieleuniversums zu verschmelzen. Die Charaktere entfalten sich behutsam und vielschichtig in ihrem Charm wie ihrer Tragik. Die Welt ist wie gemalt, atemberaubend und voller beeindruckender Bilder und Kulissen. Der rundenbasierte Kampf mit den bedrohlichen Nevrons vereint taktische Planung und actiongeladenes Reaktionsvermögen zu einer potenten Mischung. Expedition 33 findet Platz für die dramatischsten Wendungen und die albernsten Momente. Die Story ist voller Momentum und Überraschungen, aber findet einen ganz eigenen Weg, die vielzähligen Stränge der Erzählung zu einer kohärenten Einheit zu verweben. Was bleibt, ist einer der filigransten Teppiche, den meine metaphorischen Füße je streifen durften. Warum also bleibe ich, nach diesem Spiel, das so viele rundherum begeistern konnte, hauptsächlich mit der Feststellung zurück, dass ich Pakett eigentlich viel lieber mag.

Vielleicht muss ich dafür doch ein anderes Bild heranziehen und mich nochmal auf die Rezeptur besinnen. Clair Obscur: Expedition 33 ist eine göttliche Lasagne. Nur die besten Zutaten, behutsam aufgeschichtet und übergossen mit einer Bechàmel, die Königen Tränen in die Augen treibt. Vor so viel Hingabe, Handwerk und H-irgendwas anderes mit H kann man nur Respekt haben. Und gleichzeitig wollte ich eigentlich Spaghetti Bolognese essen.

Denn die verschiedenen Elemente des Spiels sind größtenteils fein säuberlich getrennt. Bedeutungsvolle Unterhaltungen zwischen den Charakteren finden im Camp statt. Dort stehen meine Mitstreiter:innen aus Lumière erwartungsvoll aufgereiht. Also schreite brav von Sciel zu Lune zu Maelle zu Monoco zu Esquie, um das jeweils nächste Level ihrer genuin fantastisch geschriebenen Hintergundgeschichte zu erfahren. Ist das abgehakt geht es zurück auf die Weltkarte und vermutlich wenig später in eines der vielen abwechslungsreichen und kreativen Dungeons, die die Welt zu bieten hat. Und diese wissen natürlich in erster Linie mit interessanten Gegner:innen, Monstern bzw. Nevrons aufzuwarten. Über die längste Zeit werden diese Gefechte nie trivialisiert. Denn es geht um weitaus mehr, als immer wieder den A-Knopf zu drücken und Angriff auszuwählen. Eigene Attacken erhalten einen Bonus, wenn die Eingabe entsprechend getimed ist. Die Fähigkeiten der Charaktere müssen bedacht eingesetzt werden. Nicht nur haben sie alle im Kampf eigene Mechaniken, diese können und müssen auch untereinander Synergien ergeben, um vor allem die anspruchsvolleren Bosse zu besiegen. Sobald diese dann ihre eigenen Angriffe präsentieren, gilt es, besonders aufzupassen. Denn nur wenige richtig sitzende Schläge können unsere Expedition bereits mühelos dezimieren. Ausweichen, springen, parieren: Die Defensive ist alles andere als passiv. Untermalt von einem häufig bombastischen Soundtrack liegt nun der Fokus also entschieden auf den Kämpfen.

Doch spätestens bei der nächsten Speicherflagge fällt auf, dass wir einige Level aufgestiegen sind und außerdem drei neue Waffen und fünf neue Pictos gefunden haben. Einige unserer Pictos, also unterstützender Fähigkeit, mit denen wir unsere Charaktere ausstatten können, sind in der Zwischenzeit außerdem in unseren Pool von Luminas übergegangen, die wir entsprechend unserer verfügbaren Lumina-Punkte nun also für die gesamte Party zur Verfügung haben. Und ähnlich wie Sandfall Interactive fast jeden Kampf zu einem aktiven Part des Spielerlebnisses macht, sind auch die Pictos nicht geschaffen worden, um einfache 6% Eisresistenz hinzuzufügen. Weit gefehlt. Stattdessen finden wir mit beeindruckender Regelmäßigkeit Modifizierungen, die weitreichende taktische Konsequenzen mit sich bringen. Also ist es jetzt mal wieder Zeit, in eine weitere Schicht vorzudringen: die des Fähigkeiten- und Ausrüstungsmenüs.

Letztendlich hoffe ich, mit diesen Beschreibungen zweierlei verschiedene Reaktionen zu evozieren und zwar anhand von unterschiedlichen Präferenzen. Denjenigen, die ganz verzückt sind von den weitreichenden Möglichkeiten in Sachen Planung, Kampfgeschehen sowie Tiefe der Charakterentwicklung und Erzählweise, ist Clair Obscur sicherlich uneingeschränkt zu empfehlen. Aber dann gibt es da vielleicht auch ein paar, die meiner Interpretation näher stehen und sich von der schieren Last unnachgiebiger Bedeutsamkeit ermüdet fühlen. 

Einen Teller Spaghetti kann ich mühelos durchmischen. Cremige Sauce, geraspelter Parmesan, frische Pasta, gehackte Petersilie. Alles verschmilzt elegant und entfaltet eine gemeinsame Identität. Doch Expedition 33 stellte sich mir eben als Lasagne dar, deren Schichten so perfekt wie perfekt getrennt waren. Ganz besonders ist mir das aufgestoßen, wenn es um die Charakterentwicklung geht, die ohnehin gegen Ende des Spiels zumindest um eine Bedeutungsebene beraubt wird, wenn auch zugegebenermaßen aus nachvollziehbaren Gründen in einer genialen Geschichte, die ihre eigentliche Intention erst spät bereit ist, preiszugeben. Für sich genommen waren die Konversationen in Sachen Drehbuch, Animation und schauspielerischem Handwerk spitzenklasse. Doch anstatt diese gleichmäßig verteilt im ganzen Gericht zu vermischen, gießen mir alle Charaktere brav aneinandergereiht in einer praktischen halben Stunde am Stück ihr Herz aus. Eine Lasagneplatte eben.

Insgesamt führt das trotz aller Artistik zu dem Gefühl einer sterilen Welt. Alles hat seinen technisch und narrativ ausgeklügelten Platz, aber für mich ist dem Gesamtprodukt nie Leben eingehaucht worden. Surreale Landschaften sind ohne einen inneren Zusammenhalt nebeneinander drapiert. Der Kontinent ist eine Ansammlung von Leveln, nicht Orten. Zu keinem Zeitpunkt war ersichtlich, welche Region warum wo angeschlossen ist. Darum geht auch überhaupt nicht. Sandfall wollte keine lebendige sondern eine fantastische Welt schaffen. Ganz explizit sogar. Aber während neben mir der Zug auf unmögliche Art und Weise den aufschwebenden Gleisen ins Nirgendwo folgt und mein Essen kalt wird, kann ich den Gedanken nicht abschütteln, dass ich gerne gewusst hätte, warum und für wen die Infrastruktur überhaupt existiert.

Im dritten Akt spiegelt sich diese zerfaserte Welt dann auch in den Kämpfen und dem Kern des Spiels wider. So wurde das Suchen nach Nebenmissionen vor dem anstehenden Finale zu einer sehr durchwachsenen Angelegenheit. Zu häufig konnte ich mit meinen Builds entweder kaum einen Kratzer in übermächtigen Bossen hinterlassen oder fegte sie mit einer Mühelosigkeit von der Karte, dass sich der Weg zu ihnen kaum gelohnt hatte. Eine ausgeklügelte Schwierigkeitskurve, die Clair Obscur über weite Teile auszeichnete, wich fragmentierten Herausforderungen. Und erneut. Alle für sich genommen an der richtigen Stelle im Spiel beeindruckend, voller thematischer Reichhaltigkeit und doch im Gesamtbild zersplittert und erratisch.

Und so endete meine Zeit mit Expedition 33 nicht so phänomenal wie sie begonnen hatte und hinterlässt doch Spuren. Ein Bild mit strahlenden Farben, bedrohlichen Schatten und verblüffenden Details. Aber wenn ich einen Schritt zurücktrete, sehe ich trotzdem noch kein Meisterwerk.

Review: Niklas Kuck

Cover: Martha Telschow und Moritz Bauer

Titelmusik: Paul Biegler, David Pfabe und Niklas Kuck – HENDIATRIS Game Club

Folge 6 – Whispers of a Machine (Vertrauen)

2025 neigt sich dem Ende zu und unsere letzte reguläre Folge des Jahres ist hier. Und womit könnte man dieses besser verabschieden als mit der Fragen: wie könnte eigentlich eine Post-AI-Gesellschaft aussehen? Als Clifftop Games und Faravid Interactive 2019 das Point’n Click Adventure, um das es sich dieses Mal dreht, veröffentlichten, hatten sie vermutlich noch keine Vorstellung davon, wie nur sechs Jahre später Bildungssysteme unter dem massiven Druck von LLMs wie ChatGPT ächzen würden; waren noch nicht in das zweifelhafte Vergnügen gekommen, unzählige gefakte Tiervideos über die Timelines fliegen zu sehen und haben doch eine Spielewelt geschaffen, die diese Strukturen bereits überwunden hat. Oder vielleicht doch nicht?!
Auf Ermittlung im fiktiven schwedischen Nordsund begleiten wir Agent Englund wieder einmal zwiegespalten gefangen zwischen Potenzial und Umsetzung, sind aber von vielen Ansätzen durchaus begeistert. Doch in letzter Konsequenz kann uns unser letztes Spiel zum Thema Vertrauen nicht überzeugen. Wer weiß, vielleicht haben wir mit dem neuen Thema im kommenden Jahr mehr Glück.

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